afrikanische Gesellschaften in der Geschichte: Aus dem Dunkel der Zeiten

afrikanische Gesellschaften in der Geschichte: Aus dem Dunkel der Zeiten
afrikanische Gesellschaften in der Geschichte: Aus dem Dunkel der Zeiten
 
Afrika — nach heutigem Forschungsstand wahrscheinlich die Wiege der Menschheit — wurde von der europäischen Geschichtsschreibung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein vernachlässigt. Insbesondere den Gebieten südlich der Sahara, die als Menschenreservoir für den transatlantischen Sklavenhandel und Rohstofflieferanten den Aufstieg Europas zur Weltmacht befördert haben, ist unter dem Eindruck kolonial geprägter Vorurteile jegliche historische Bedeutung abgesprochen worden. Berichte europäischer Handels- und Entdeckungsreisender, Missionare und Kolonialbeamter schienen die Annahme zu rechtfertigen, es mit einem geschichtslosen Erdteil zu tun zu haben.
 
Durch kritische Prüfung schriftlicher Quellen, durch Heranziehung mündlicher afrikanischer Überlieferungen und in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen (Archäologie, Linguistik, Ethnologie, Kunstgeschichte, Agrar- und Medizinforschung) ist es der Geschichtswissenschaft in der Zwischenzeit gelungen, dieses klischeehafte Afrikabild aufzubrechen. Gleichzeitig verstärkte sich die Einsicht, dass die Kooperation mit afrikanischen Wissenschaftlern unumgänglich ist, um die koloniale Geschichtsschreibung korrigieren und die Geschichte afrikanischer Gesellschaften vor deren Begegnung mit Europa »wieder entdecken« zu können.
 
Dabei führen insbesondere Überreste materieller Natur mitunter zu völlig neuen Erkenntnissen. So belegen Weizenkörner, die im Sudan an der Grenze zu Tschad bei der Ausgrabung einer etwa 17000 Jahre alten Siedlung gefunden worden sind, entgegen bisherigen Annahmen, dass Weizen in Afrika früher angebaut wurde als in Mesopotamien. Überreste von Bewässerungssystemen am Oberlauf des Nils (Sudan) und Untersuchungen an den Nilquellen (Uganda) sowie in den Gebieten um den Tschadsee weisen auf afrikanische Wurzeln der altägyptischen Hochkultur hin.
 
Wie Felsmalereien bereits vermuten ließen und Klimaforschungen inzwischen bestätigten, war die Sahara vor 10000 Jahren noch ein fruchtbarer Siedlungs- und Kulturraum. Die ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. rasch zunehmende Austrocknung löste Völkerwanderungen u. a. nach Westafrika aus und führte langfristig zu tief greifenden historischen Veränderungen, die das Gesicht des Kontinents neu geprägt haben. Da die Dauer und der Verlauf dieser Wanderungsbewegungen bislang erst ansatzweise rekonstruiert werden konnten, ist z. B. noch unklar, inwieweit sich der Exodus aus der Sahara auch nach Osten erstreckte und welche Einflüsse er auf die Kultur des Niltales ausübte.
 
Obwohl sich unsere Kenntnisse über Wirtschaftsweisen, Staats- und Gesellschaftsstrukturen in den verschiedenen Regionen Afrikas stark erweitert haben, gibt es nach wie vor »weiße Flecken« auf der historischen Landkarte dieses Kontinents. Von zahlreichen Völkern wissen wir nur wenig, da sie keine Zentralstaaten gegründet, sondern sich in kleinräumigen Gemeinwesen organisiert haben, in denen Vertreter von Berufsständen, Ältestenräte oder Geheimgesellschaften die politische Macht ausübten und juristische Aufgaben wahrnahmen. Die Geschichte dieser schriftlosen Kulturen lässt sich anhand ihrer mündlichen Überlieferungen sowie ihrer bildnerischen Selbstzeugnisse erschließen.
 
Ebenfalls erst am Anfang stehen Untersuchungen über die Beziehungen zwischen diesen gemeinhin als »Gesellschaften ohne Staat« bezeichneten Völkern und den verschiedenen Großreichen, deren Entstehung und Ausbreitung aufgrund archäologischer und schriftlicher Zeugnisse besser belegbar sind: das alte Ägypten und die Zivilisationen von Kusch und Meroe (Nubien, Sudan), die mittelalterlichen Großreiche der westlichen Sudanzone Gana, Mali und Songhai, die Staaten von Ife, Oyo und Benin (im heutigen Nigeria), das Reich Kongo (Angola), die Suahelikultur an der Küste Ostafrikas sowie Groß-Simbabwe und Monomotapa im südöstlichen Afrika, um nur die wichtigsten zu nennen.
 
Die wirtschaftliche, politische und kulturelle Vielfalt der afrikanischen Gesellschaften, die auch in ihren Beziehungen untereinander zum Ausdruck kam, bildete sich im Verlauf großer Zeiträume auf einem Kontinent enormer geographischer Ausdehnung. Der folgende Überblick nennt einige Faktoren, die aus heutiger Kenntnis die Strukturen und Beziehungen ausschlaggebend geprägt haben. Wie sich einige dieser Gesellschaften zu großen politischen Einheiten verdichtet, sich am Fernhandel beteiligt und durch militärische Eroberungen ihre Einflusszonen erweitert haben, wird in den anschließenden Kapiteln anhand von Beispielen erörtert.
 
 Afrika nördlich des Äquators: Handelswege und islamische Einflüsse
 
Grundlegend für die Staatenbildung in der westlichen Sudanzone waren der hohe Stand der Entwicklung von Viehzucht und Ackerbau, die Kenntnis der Eisenverhüttung sowie die Verbreitung von Pferd und Kamel ab der Zeitenwende. Mit dem Transsaharahandel intensivierten sich ab dem 8. Jahrhundert n. Chr. die Handels- und Kulturkontakte zwischen dem muslimischen Nordafrika und dem subsaharischen Gebiet zwischen Kanem im Osten und Tekrur im Westen. Die Erlöse aus dem Fernhandel und die Entstehung einer höfischen islamischen Kultur begünstigten den Aufstieg der Großreiche Gana, Mali und Songhai sowie die Entwicklung der Stadtstaaten der Hausa. Der unverkennbare Einfluss, den der Islam auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der nordwestafrikanischen Großregion ausgeübt hat, spiegelt sich auch im Aufstieg von Karawanenstationen zu Städten wider, deren Namen bis heute nachklingen: Kairouan, Fès, Timbuktu, Gao, Djenné, Kano.
 
Ähnlich wirkten sich Fernhandelsbeziehungen und islamische Kultureinflüsse auf die Küste Ostafrikas aus. Hier ließen sich seit dem 7. Jahrhundert Emigranten aus Arabien, Persien und Indien nieder und begründeten gemeinsam mit der bantusprachigen einheimischen Bevölkerung die Suahelikultur, zu deren wichtigsten politischen und kulturellen Zentren Mogadischu, Mombasa, Sansibar und Kilwa gehörten. Sie verdankten ihren Aufstieg insbesondere dem Überseehandel mit Indien, China und Indonesien, der mithilfe der Daus, arabischen Segelschiffen, abgewickelt wurde.
 
Im Nordosten des Kontinents, dem Horn von Afrika, nahm Äthiopien in mehrfacher Hinsicht eine historische Sonderstellung ein. Nach dem Niedergang des Reiches von Aksum begründete sich hier im 5. Jahrhundert Abessinien — der erste christliche Staat außerhalb des Römischen Reiches —, dem es gelang, sich inmitten einer muslimischen Umgebung zu behaupten. Aus den Auseinandersetzungen mit den islamischen Küstenkulturen ging ab 1270 unter der Dynastie der Salomoniden eine militärisch und politisch expandierende Kultur hervor, deren religiöse und geistige Zentren die christlichen Klöster bildeten.
 
Zahlreiche schriftliche Zeugnisse arabischer Autoren erleichtern die historische Rekonstruktion der islamisch geprägten Kulturen West- und Ostafrikas. Das Gleiche gilt für Äthiopien, dessen Geschichte in den schriftlichen Chroniken der Klöster überliefert worden ist und sich darüber hinaus in zahlreichen Bauwerken und Zeugnissen bildender Kunst widerspiegelt.
 
 Afrika südlich des Äquators: Völkerwanderungen und Mauern aus Stein
 
Angefangen bei den Terrakottafiguren der Nokkultur auf dem Josplateau, die bereits seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. die Eisenverhüttung beherrschte, weisen zahlreiche Zeugnisse materieller Natur darauf hin, dass der Unterlauf des Nigerflusses ein weiterer Ausgangspunkt menschlicher Zivilisation gewesen ist. Auf dem Gebiet des heutigen Nigeria siedelten sehr unterschiedliche Kulturen: so die Ibo, eine Agrargesellschaft »ohne Staat«, die Yoruba, die etwa im 11. Jahrhundert n. Chr. die Staaten von Ife und Oyo begründeten und heute vor allem durch ihre meisterhaften Bronzeköpfe bekannt sind, oder die Edo, deren Bronzereliefs und Plastiken Zeugnis über ihr militärisch straff organisiertes Reich Benin ablegen.
 
In jahrhundertelangen Wanderungen haben sich bantusprachige Agrarvölker, vermutlich ausgehend vom Grenzgebiet zwischen dem heutigen Kamerun und Nigeria, über das südliche Drittel des Kontinents in Richtung Süden und Osten ausgebreitet und dabei der riesigen Region vom Victoriasee (Uganda) bis zum südafrikanischen Kap ihren kulturellen Stempel aufgedrückt. Über ihre Anzahl und die Beweggründe ihres Aufbruchs besteht bis heute ebenso wenig Klarheit wie über die genauen Wegstrecken. Archäologische Funde lassen lediglich Rückschlüsse darauf zu, dass sie sich mit den jeweils ansässigen Bevölkerungen vermischt haben, Ackerbau und Viehhaltung betrieben sowie die Eisenverarbeitung kannten. Seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. sind solche Siedlungen auf dem südostafrikanischen Hochplateau nachweisbar. Günstige geographische und Umweltbedingungen führten hier ab dem frühen 11. Jahrhundert zur Begründung der Kultur von Simbabwe. Als deren größte und bedeutendste städtische Siedlung gilt Groß-Simbabwe, die 1250 gebaute Residenz eines der mächtigsten Herrscher in Südostafrika. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde diese Großstadt verlassen. Ihr Erbe trat das weiter nördlich gelegene Reich Monomotapa (im heutigen Moçambique) an, das 1629 unter portugiesische Herrschaft geriet.
 
Dr. Brigitte Reinwald
 
 
Arche Afrika. Ausbruch ins Eigene. Zürich 1995.
 Bâ, Amadou Hampâté: Jäger des Wortes. Eine Kindheit in Westafrika. Aus dem Französischen. Wuppertal 21995.
 
The Cambridge history of Africa, herausgegeben von J. D. Fage und Roland Oliver. Band 3 und 4. Cambridge u. a. 1975-77.
 
Methodology and African prehistory, herausgegeben von Joseph Ki-Zerbo. London 1981. Gekürzte Ausgabe London 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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